Das Light Phone 2 - Schluss mit Always-On

Den Trend, den man auch unter dem Tag “Minimalismus” parken könnte, hat inzwischen pragmatisch die mobile Produktdimension erreicht und läutet die Post-Always-On-Ära ein.

Hä?

Die Rede ist von dem Light Phone 2. Einem Smartphone, welches nicht smart deshalb ist, weil es Dich ständig (gewollt oder nicht) mit der Welt interagieren lässt, sondern weil es endlich wieder zum überschaubaren Tool degradiert wird.

Die Zwecke sind hier in einer rudimentären Version eines Schweizer Taschenmessers kuratiert und noch nicht alle on board. Man kann telefonieren, schreiben und soll etwa eine Playlist abspielen und sich Richtungen für die mobile Orientierung anzeigen lassen können. Man kann auch einen Wecker stellen, Kalender und eine Taxi-Feature sind ebenfalls angepriesen.

Die Auswahl der Zwecke wird offenbar auf dem Prüfstand nach harten Gesichtspunkten ausgelotet und es gilt das Motto: Weniger ist mehr! Doch anstelle von 20 Apps für’s Wetter gibt es scheinbar weitaus integriertere und praktische Anwendungen, wie: “Taxi?”. Das ist nicht schlau als Plattform-Disruption, aber schlau für ein gutes Produkt, welches das macht, was es machen soll.

Ich finde diese Entwicklung tatsächlich gut. Nach den magischen Wundermaschinen, die inzwischen selbst mit mir sprechen, habe ich das Level der Sättigung längst erreicht. Ein kluges Produktdesign mit dem Auge für funktionale Reduktion auf das Wesentliche und Zweckmäßige kann Spaß machen. Nicht nur im Digitalen.

Aus meiner Sicht wird sich dieser Trend fortsetzen und es wird eine neue Generation von zeitgemäßen aber auch funktional minimalisierten Apparaten und Produkten geben. Die Genealogie des Digitalen bewegte sich entlang des utopischen, hin zum kommerziellen, dann zum übersättigten und muss nun wieder auf die Möglichkeit des freien Willens abzielen.

Tools werden endlich wieder Tools.

Light Phone

Bildquelle: thelightphone.com

Und dieser Hauch von Nichts hat seinen Preis! Oder?

350$ soll das nett gestaltete Telefon kosten. Man kauft sicher nicht die funktionale Vielfalt, sondern auch den reduktionistischen, essentialistischen, minimalistischen Philosophieansatz als Statement.

Ich finde das geht ok. Man bedenke, wie schnell sich der Invest amortisiert, wenn man den Zeitgewinn verrechnet, welcher durch das Nichtreagieren auf neue Pushnachrichten entsteht. Oder durch das Nicht-Facebook-Checken. Fabelhaft!

Mit der gewonnenen Lebenszeit kann man es sich sobald richtig gut gehen lassen. Bücher lesen, Zeit mit lieben Menschen verbringen (die jedoch vermutlich noch auf ihr Handy starren, während man die spannende Zusammenfassung des letzten Buches vorträgt), einen Waldspaziergang machen oder einfach mal nicht-always-on sein.

Das finde ich tatsächlich lukrativ - das Light Phone ist ein Schnäppchen, da es eine Entscheidungsfindung zum Wandel unterstützt. Ähnlich wie ein Nikotin-Pflaster 😂 … nur eben schöner gestaltet.

Auf einigen Blogs und Gadget-Seiten habe ich Kritik am Preis erklingen hören. Doch ich sage: Lass die Jungs mal machen! Wenn sie sagen 350 Dollar, dann isses eben so. Wenn man ein wenig mehr darüber nachdenkt, dann ist es doch auch so:

IPhone-Nutzer bezahlen immer phantastischere Summen in einer immer höheren Frequenz. Z.B. um einfach mal locker mit drei Linsen zu knipsen. Ich kann mir nun nicht vorstellen, dass man sich alle 2 Jahre ein neues Light Phone kaufen würde, sobald der Unsmartening-Prozess gereift ist und man sich in der neuen Lebenswirklichkeit zurechtgefunden hat. Ergo muss man sich überlegen, was man mit dem neuen Budget-Überschuss machen will. Ein Fernstudium finanzieren? Ein Buch vermarkten? In einen ETF-Sparplan investieren? Pinsel, Leinwand und Ölfarbe kaufen?

Das Light Phone baut Feature ab und füllt den Raum mit Möglichkeiten.

350$ … ein fairer Obolus für die Finanzierung einer digitalen Weiterentwicklung.

Minimalismus als Reaktion

Nach den Jahrzehnten des Überfrachtens, der Komplexität und des Wachstums sehnen sich sicher die meisten Menschen nach einer neuen Phase des Digitalzeitalters. Eine Phase, die weniger Reaktion erfordert. Minimalismus ist sicher eine Form der Reaktion auf die Nicht-Reduktion auf die wesentlichen Aspekte. Und im Grunde ist das gut so. Denn es wird hinterfragt und ein Statement provoziert, welches das Füllhorn als normative Konstante in Frage stellt. Dinge können gerne schlauer und ‘smarter’ werden, wenn sie denn nützlich sind und individuelle Mündigkeit in einer komplexen Welt erhalten.

Selektion des Wichtigen, des Nützlichen, des Geeigneten … das wird ein Trend sein, den ich für das nächste Jahrzehnt auch als Gegenbewegung in methodischen Bereichen - etwa der Produktentwicklung - sehe. Pivoten, Market Fit, Growth Hacking … all das wird basal relevanteren Zielkorridoren weichen. Am Ende geht es um die qualitative Bereicherung. Und um diese effektiv umzusetzen, muss man manchmal eben auch rückbauen.

:)